Eurer Entwicklung fehlt es an Orientierung? So nehmt ihr das Problem selbst in die Hand. Ein Erfahrungsbericht.

Jorgen

25. Februar 2021

Orientierungslosigkeit kann im Lauf jeder Softwareentwicklung vorkommen. Doch was tut man, wenn im Teamsetup niemand für die Rolle der/des Agile Coach vorgesehen ist? Man wechselt einfach mal die Rollen und damit die Perspektive – auch als Entwickler*in. So wie Jorgen, der sich im Rahmen eines seiner Entwicklungsprojekte kurzerhand den Facilitationshut aufgesetzt hat. Mit ganz viel Wirkung, fürs Projekt und für ihn selbst. Hier sein Erfahrungsbericht.

Irgendetwas stimmte nicht. Das Team entwickelte Features, das Backlog war gut gefüllt, alle verstanden sich sehr gut miteinander, aber etwas fehlte. Es dauerte ein wenig, bis es mir klar wurde: Uns fehlte die Orientierung. Niemand war sicher, warum wir heute an diesem, morgen an jenem Teil der Anwendung arbeiteten. Natürlich gab es immer einen Grund, warum dieses oder jenes genau jetzt wichtig war. Aber warum in dieser Reihenfolge, was war das längerfristige Ziel? Dieser Orientierungsmangel wirkte sich mittlerweile auch negativ auf die Motivation und die Geschwindigkeit des Teams aus.

Über die eigene Rolle hinaus mitdenken

Da wir in diesem Projekt – etwas ungewöhnlich für uns – “nur” als reine Entwicklungsunterstützung arbeiteten, die Rolle der Coaching-Begleitung aber nicht besetzt war, bot ich ganz im Geiste des konsequent crossfunktionalen Teams an, für ein Meeting einmal in die Rolle des Facilitators zu wechseln. Insbesondere aus zwei Gründen fiel es mir leicht, dieses Angebot zu machen: Zum einen ist der entsprechende Werkzeugkasten bei mindmatters schon lange im Repertoire. Zum anderen ermutigen wir unsere Kolleg*innen sowieso auch außerhalb der eigenen Rolle zu denken und zu handeln.

Die wichtigsten Tools aus unserem Werkzeugkasten möchte ich euch hier kurz vorstellen.

Eine Roadmap für mehr Fokus

In vielen Projekten nutzen wir für die Orientierung des Teams eine Roadmap, welche die Aufgaben und Pläne auf sehr abstrakter Flughöhe beschreibt. Damit können wir  etwas unabhängiger von Details visualisieren, woran das Team gerade arbeitet, was abgeschlossen ist, und was ansteht.

So eine Roadmap wird gerade bei größeren und komplexeren Projekten benötigt, weil die Stories im Backlog selten wirklich thematisch abgeschlossene Einheiten bilden, sondern häufig in einem größeren Kontext stehen. Die Roadmap ist dann ein Kanban-Board, das die Epics oder auch Sagas betrachtet und ordnet. Das WIP-Limit (WIP=work in progress) des Kanban-Boards sorgt dafür, dass das Team nicht an zu vielen Themen gleichzeitig arbeitet und dadurch den Fokus verliert, aber auch, dass zusammenhängende Themen abgeschlossen werden, bevor das nächste Thema begonnen wird. Auch die/der Product Owner*in (PO) kann sich besser auf wenige anstehenden Themen konzentrieren und diese ausarbeiten, anstatt sich in zu vielen Details zu verlieren, und somit die Roadmap auch als Diskussionsgrundlage mit den Stakeholder*innen verwenden

Ein klarer Meeting-Rahmen

Ein Meeting ohne Rahmen ist selten produktiv. Um ein gutes Meeting zu gestalten, benötigt man ein klar kommuniziertes Ziel und eine Agenda mit Zeitansatz. Alle, die am Meeting beteiligt sind, sollten diese Informationen schon im Voraus haben, um sich auf das Meeting einzustellen. Im Meeting selbst helfen Check-In und Check-Out.

Beim Check-In sagt jede*r etwas kurzes zu einer Fragestellung oder zu einem Stichwort. Das hilft allen Beteiligten, sich mental auf das Thema und das Meeting einzustellen, adressiert aber auch die Grundregel “wer in den ersten 15 Minuten nichts sagt, sagt auch den Rest des Termins nichts mehr”.

Das Check-Out hilft mental das Meeting zu verlassen. Auch hier sagt jede*r kurze abschließende Worte, zum Beispiel was er/sie aus dem Meeting mitnimmt.

Post-Its als gemeinsames Werkzeug

Mit das mächtigste Werkzeug zur Visualisierung gemeinsamer Ideen sind Post-Its. Wenn Ideen irgendwo stehen und man diese verschieben und zueinander in Kontext bringen kann, fällt es viel leichter, Gedanken zu sortieren. Sei es analog mit echten Post-its an unseren Wänden mit Whiteboard-Farbe, oder in digitalen Tools wie mural oder miro für Videokonferenzen. Hier einfach auf existierende Tools und Rahmenbedingungen zurückgreifen zu können, half enorm.

Erkenntnis

Auch wenn wir bereits nach dem ersten 2h-Meeting ein Ergebnis hatten, nahmen wir uns noch zwei weitere Meetings Zeit, um dieses erste Ergebnis zu verfeinern und in eine Form zu bringen, mit der wir auch arbeiten konnten.

Wir erkannten sehr schnell, dass wir im Projekt an zu vielen Themen gleichzeitig gearbeitet hatten. Teilweise war uns gar nicht klar gewesen, dass die Stories zu ganz anderen Themengebieten gehörten. Mit etwas Fokus auf dem, was wir gerade taten, und dem, was überhaupt ansteht, fühlten wir uns besser orientiert und hatten auch ein Tool um über die anstehenden Themen zu sprechen. Ist dieses Thema jetzt wichtiger als jenes? Welches Thema schließen wir ab, damit wir das neue Thema überhaupt anfangen können? So konnten wir mit einem viel besseren Gefühl in den nächsten Entwicklungszyklus starten.

Irgendetwas stimmte nicht. Aus diesem merkwürdigen Gefühl heraus entstand in nur drei mittellangen Meetings des Teams ein Artefakt zur Produktsteuerung. Möglich war das, weil wir als Entwickler*innen bei mindmatters nicht nur entwickeln, sondern auch Prozessbegleitung verstehen und leben, da mindmatters einen Werkzeugkasten für Facilitation kennt, nutzt und ganz explizit macht, und wir alle crossfunktional im weitesten Sinne des Wortes denken. Und für mich selbst war die Erfahrung meines Rollentauschs auch mehr als spannend – fachlich und persönlich, aber auch, weil es wieder mal gezeigt hat, dass es einen großen Unterschied macht, sich selbst über die eigene Rolle hinaus zu verstehen und Verantwortung zu übernehmen. Ich kann es nur empfehlen.