Viele kennen das: Home Office gilt häufig als nicht ernsthaftes Arbeiten, sondern als ein faktischer Urlaubstag, in dem man halt ein bisschen E-Mails liest und schreibt. Gerade wegen diesem Bild verbieten manche Firmen Home Office grundsätzlich oder erlauben es nur in dringenden Ausnahmefällen.
Selbst wer in einer solchen Kultur ernsthaft im Home Office arbeiten möchte, wird dort vom eigenen Team nicht wirklich wahrgenommen, verpasst Informationen und erhält nicht die gleiche Unterstützung wie vor Ort.
Aber das muss nicht so sein. Es ist keine technische oder organisatorische Notwendigkeit, das Arbeiten im Home Office als Arbeiten zweiter Klasse zu behandeln. Allerdings erfordert es eine Änderung in der Denk- und Handlungsweise aller Teammitglieder.
Die entscheidenden Impulse kommen für mich aus der Remote Work Bewegung.
Als ich das erste Mal von Remote Work erfahren habe, fand ich es verrückt: ein Teammitglied im Campingwagen am Strand, ein Teammitglied auf Weltreise, ein anderes in einem Coworking Space in der Großstadt — wie soll so ein Team funktionieren?
Auch wenn ich skeptisch war — dieses Digitale Nomadentum klang so spannend, dass ich mich mit dem Thema weiter beschäftigte.
Und dann, beim Lesen von “Remote — Office not required” (“Remote — Büro nicht erforderlich”) von Jason Fried und David Heinemeier Hansson machte es auf einmal Klick bei mir:
“Stop commuting your life away.” — “Pendel Dir nicht Dein Leben weg.”
Ja, auf jeden Fall! Bus- und Bahnfahren nervte! Immer noch besser als mit dem eigenen Auto im Stau zu stehen und umweltfreundlicher, aber noch sinnvoller wäre es ja, das nicht zu tun. Sich nicht mit anderen Menschen, die sich teilweise krank zur Arbeit schleppen, in einen engen Raum zu quetschen, zu schwitzen, sich anzustecken, diese Zeit auszusitzen ohne Privatsphäre zu haben oder etwas sinnvolles zu tun, weil es meist selbst zum Lesen zu voll ist. Mir wurde klar, dass ich täglich zwei Stunden Lebenszeit verschwendete.
Wow. Einfach mal in Frage stellen, was man für selbstverständlich hält.
Und weiter:
“Remote isn’t all or nothing.” — “Remote ist nicht alles oder nichts.”
Und:
“You’re probably already doing it.” — “Ihr tut es vermutlich bereits.”
Stimmt. Für unsere Kund*innen, die unsere Product Owner*innen sind, hatten wir bereits etabliert, dass unsere StandUps per Videokonferenz stattfinden, um ihnen für diese 15 Minuten den Weg in unser Büro zu ersparen. Unsere Workflow-Boards (Scrum oder Kanban) waren bereits digital. Auch nutzten wir schon viele Cloud-Services, sodass Arbeit von überall technisch weitestgehend möglich war.
Wir haben verstanden, dass das Prinzip “Sharing is caring” (“Teilen bedeutet, dass es dir wichtig ist”) bei Remote Work noch wichtiger ist als sonst: Allen im Team sollte bewusst sein, dass man bei Remote Work gar nicht zu viel kommunizieren kann.
Wir sagen “Moin” — “Ich mach Mittag” — “Bin wieder da” und “Ich mach mal Feierabend” im Chat, um zu signalisieren, wann wir ansprechbar sind. Wenn wir eine Information erhalten, die für ein anderes Teammitglied wichtig sein könnte, teilen wir sie mit allen.
Das Wichtigste ist, dass auch die Teammitglieder, die ins Büro kommen, sich remotebewusst verhalten, damit sich keine Subkultur bildet: Sobald eine Person remote zu einem Meeting dazu kommt, behandeln wir das Meeting als Remote Meeting, was bedeutet, dass wir alle Informationen digital teilen.
Die Technik für Videokonferenzen ist fortgeschritten und definitiv nutzbar, aber sie erfordert auch Disziplin von allen Beteiligten: Im Bewusstsein über Störgeräusche sollte man nicht klatschen, keine Tassen direkt neben dem Mikro abstellen und sich am besten auf stumm schalten, wenn man gerade nichts sagen möchte, falls man z.B. neben einem offenen Fenster an einer Straße sitzt.
Und natürlich ist es genauso wichtig, in die Kamera zu gucken und ins Mikro zu sprechen, wie einem Menschen in die Augen zu sehen, mit dem man sich im gleichen Raum befindet. Letztendlich sollte man die Umgangsformen, die auch im Offlineleben wichtig sind, in die Remote Situation übertragen.
Damit nicht funktionierende Technik keinen Frust erzeugt, ist es unglaublich wichtig, Störungen sofort zu benennen und den anderen Videokonferenz-Teilnehmer*innen Feedback zu geben, wenn ihre Übertragung schlecht ist. Nur so kann jede*r rausfinden, ob eine schnellere Internetverbindung, ein höherwertiges Micro oder eine bessere Kamera benötigt wird und beitragen, dass Remote möglichst reibungslos funktioniert.
Viele, die bisher keine Remote Kultur erlebt haben, fragen mich: Wo ist die Grenze? Was funktioniert remote gar nicht oder schlechter?
Ja, es gibt Grenzen. Sobald es zu Konflikten kommt, wird Remote schwieriger. Insbesondere weil es plötzlich wieder möglich ist, nicht zu kommunizieren. Man kann einfach offline gehen, nicht oder nur schleppend auf Chatnachrichten antworten und sich darum drücken, einfach eine Videokonferenz zu starten und zu reden.
So ein Verhalten ist mir bisher nur einmal begegnet und es handelte sich dabei um eine Projektsituation, in der wir noch nicht lange genug mit der Person zusammengearbeitet hatten, sodass sie nicht in unsere Kultur integriert war. In dieser Situation wurde deutlich, dass unsere Kultur des Vertrauens und der engen Zusammenarbeit notwendige Voraussetzung für die Remote Kultur ist.
Meine Erfahrung ist, dass Remote Situationen, die schwierig sind, eher andere Probleme aufdecken, z.B. fehlende Ziele von Meetings, Kultur- oder Kommunikationsprobleme oder ein fehlendes gemeinsames Verständnis davon, wie man zusammenarbeiten möchte.
Remote werden solche Probleme schneller sichtbar als in einer Situation vor Ort. Es hilft dann, das erkannte Problem zunächst offline zu lösen, bevor man die Situation wieder remote trägt. Sonst kann es passieren, dass die Remote Situation als das Problem gesehen und eine echte Chance zum Lernen verpasst wird.
Eine weitere Erkenntnis, die wir hatten: Remote hat unsere Kuchenkultur verändert. Früher hat öfter jemand Kuchen ausgegeben und der wurde auch schnell aufgegessen. Heute bringen weniger Leute Kuchen mit und kündigen das offensiver an, damit auch genug Leute im Büro sind, die ihn genießen können. Dafür gibt es für die Leute vor Ort meist auch ein zweites Stück.
An die Stelle des Kuchen sind andere Formate getreten: wir nutzen den Donut Slackbot um uns regelmäßig in zufälligen Zweier- oder Dreiergruppen zur Kaffeepause oder zum Mittag treffen — ob offline oder per Videokonferenz entscheiden die jeweiligen Gruppen. Wir haben uns auch schon zum Online-Spielen verabredet, um mit unserem Kollegen in Florida eine Feierabendaktion zu veranstalten.
Die Zukunft ist da: Ob es gelingt, gemeinsam remote zu arbeiten ist keine Frage der Technik, sondern eine Frage der Kultur.