Kollegiale Führung und ich

Gunnar

22. Oktober 2021

Wir als mindmatters sind ein Unternehmen, das von seinen Kolleg*innen geführt wird. Doch was ist dieses “Kollegiale Führung”-Ding überhaupt? Im Kern geht es um die Umkehrung der so genannten “Steuerungsrichtung” - und damit um eine grundlegend andere Art, Entscheidungen für ein Unternehmen zu treffen.

Ein persönlicher Bericht von Gunnar

Als ich vor einiger Zeit bei mindmatters anfing, war das Thema “Kollegiale Führung”  nicht nur komplett neu für mich, es war teils sogar ein Stück beängstigend - mein vorheriger Arbeitgeber war eine ehemalige Behörde. Kollegiale Führung ist meiner Meinung nach nicht einfach zu implementieren, gerade wenn eine Firma eine gewisse Größe überschreitet.

Meistens werden Firmen in irgendeiner Form von einem zentralen Management gesteuert, also von Menschen, die qua Position Entscheidungen treffen. Dies findet auf unterschiedlichen Ebenen statt: Je höher die Ebene, desto globaler die Entscheidungen. Bei dem Konzept der kollegialen Führung geht man davon aus, dass die Kund*innen vorgeben, womit sich ein Unternehmen beschäftigt. Sie sind die Abnehmer von Produkten und Dienstleistungen und sie refinanzieren am Ende das gesamte Unternehmen, inklusive aller Mitarbeiter*innen.

Kollegiale Führung: Entscheidungen näher am Markt

“Und das soll neu sein?”, war meine Reaktion, als ich das erste Mal von dem Thema hörte. Auch in meinen vorherigen Unternehmen haben wir uns doch immer an unseren Kund*innen ausgerichtet und den Markt beobachtet. Und klar, wir haben auch immer versucht, unsere Dienstleistungen so zu organisieren, dass die Kund*innen uns gerne buchen. Und deshalb haben wir ja wohl auch dort nicht an der Realität vorbei gearbeitet… oder?

Im Fall eines zentralen Managements muss man dann aber doch feststellen, dass die Entscheidungen häufig von Menschen getroffen werden, die sehr große, vielleicht sogar maximale Distanz zu Kund*innen haben. Selbst wenn die Erkenntnisse aus der direkten operativen Arbeit irgendwann zum Management durchdringen, so braucht dies doch Zeit - stellenweise sehr viel Zeit. Zeit, die wir in einer digitalen Umgebung oft nicht haben.

Von der indirekten zur direkten Wertschöpfung

Die Umkehrung der so genannten Steuerungsrichtung will also die Entscheidungsbefugnis und -verantwortung in die Hände derer legen, die den direkten Kontakt mit den Kund*innen  haben. Traditionell organisierte Unternehmen werden von der indirekten Wertschöpfung zur direkten Wertschöpfung gesteuert - von innen nach außen. Die Steuerungsrichtung umkehren bedeutet nun also genau das Gegenteil: von außen nach innen.

Wie die Idee der kollegialen Führung mich und meine Arbeit verändert hat

Nach dieser kleinen Einleitung jetzt meine persönlichen Erfahrungen mit kollegialer Führung. Wie fühlt es sich an? Was habe ich zu Beginn häufig falsch gemacht? Wie hat es mich und meine Arbeit verändert?

Die Anfänge. Wenn man bei mindmatters anfängt, stellt man schnell fest: Das, was man üblicherweise Abteilungen nennt - das gibt es einfach nicht. Stattdessen aber sogenannte Geschäftskreise, Dienstleistungskreise, Praktikergruppen  oder auch Fallentscheide. Es steht jeder und jedem frei, Teil dieser Gruppen zu werden. Man kann überall vorbeischauen, sich ein Bild von der Arbeit machen und sofort aktiv mitarbeiten. Die Kreise und Gruppen organisieren sich auf einem (sehr großen) Board, auf dem Aufgaben und Anregungen gesammelt und bearbeitet werden.

Die Herausforderung, die eigene Mitarbeit zu begrenzen

Und hier kam schnell mein erstes Problem: ALLES ist interessant. In jedem dieser Kreise und Gruppen werden Probleme und Herausforderungen bewegt, die eine enorme Ausstrahlung auf die tägliche Arbeit haben und nach einiger Zeit hat man  zu fast jedem Thema eine Meinung oder Ideen. So sprang ich am Anfang in alle möglichen Kreise oder Gruppen hinein und versuchte, dort meine Ideen einzubringen - und fing an mich zu verzetteln.

Alle Kreise und Gruppen arbeiten intensiv. Sie erzeugen Resultate und Entscheidungen und wenn man sich dort nicht richtig einbringt, ist man ein Hang-Around und kein produktives Mitglied. Auf einmal lernt man, dass auf vielen Hochzeiten schöne Musik spielt, aber man eben nicht überall tanzen kann (außerdem kann ich gar nicht tanzen). Trotzdem kristallisierten sich Themen heraus, die mir besonders am Herzen liegen und bei denen ich mehr Ideen habe als bei anderen. So kam es dann zur zweiten Phase.

Mehr Wirkung durch mehr Fokus

Ich habe meine Mitarbeit mittlerweile auf wenige Kreise und Gruppen reduziert - und zwar auf die, in denen ich dann aber auch wirklich einen Unterschied machen kann. Wie organisieren wir die Entwicklung von Software? Wie können Entwickler*innen Marketing und Vertrieb unterstützen, damit wir klarer kommunizieren? Was ist agile Softwareentwicklung und wieso ergibt sie sehr wohl Sinn  - auch wenn sie immer wieder totgesagt wird?

Auf diese Weise kann ich meine Energie bündeln und mit anderen KollegInnen in die Diskussion über Dinge einsteigen, die das Unternehmen so bewegen, wie ich es möchte. So trägt jede unserer  Entscheidungen auch meine Handschrift und hinter jeder Entscheidung kann ich uneingeschränkt stehen. Und da auch die Kreise und Gruppen, an denen ich nicht beteiligt bin, eben von Kolleg*nnen besetzt sind, weiss ich, dass die Entscheidungen dort genauso gut vorbereitet und getroffen werden wie in “meinen” Kreisen. Denn, die goldene Regel bei mindmatters ist: “Wir gehen davon aus, dass alle das jeweils individuell Beste geben, was sie zu gegebener Zeit leisten können”. Das bringt uns in die Verantwortung und durch den direkten Kundenkontakt reden alle Kund*innen automatisch mit… also im Geiste.

Mein erstes Fazit: Alle sind in natürlicher Verantwortung

Und jetzt? Was denke ich jetzt darüber?

Als ich mein Vorstellungsgespräch bei mindmatters hatte, erwähnte ich, dass mir die Idee der kollegialen Führung ein bisschen Angst mache. Denn ein “das haben die da oben entschieden” gibt es nicht mehr und damit auch nicht die Möglichkeit, Verantwortung abzuwälzen. Bis auf rechtliche Belange haben Frank und Tim (unsere Inhaber) die Entscheidungsbefugnis größtenteils abgegeben und lassen das Unternehmen als Ganzes agieren - damit kann man sich aber auch nicht mehr hinter Anderen verstecken. Alle Entscheidungen werden von allen getroffen, und wenn mir etwas nicht passt, kann ich ja in die betreffenden Kreise oder Gruppen eintreten und daran mitarbeiten, dass sich Dinge verbessern. Im Endeffekt müsste ich das sogar!

Sind wir damit dichter beim Kunden? In vielen Situationen schon. Wir können sehr schnell reagieren und eventuell schon Dinge bedenken, bevor diese bei uns eintreffen. Wir handeln schnell und flexibel und alle sind mit im Boot. Die Kolleg*innen, die den meisten Beitrag zur direkten Wertschöpfung erbringen, sind auch die, die bei allen Entscheidungen mit im Boot sitzen. Entweder direkt durch den Kreis, in dem diese Entscheidung getroffen wird, oder durch unsere monatlichen Konsultationen zu Themen, wo wir mal ein Stimmungsbild brauchen.

Kollegiale Führung - man muss sie aktiv wollen

Ist jetzt alles Friede, Freude, Eierkuchen? Aber nein. Ist es nicht. Wir reden, haben kontroverse Meinungen und streiten. Aber da wir alle an der Lösung interessiert sind, kommt es immer zu einem Konsens. Manchmal muss man dafür schon sehr weit aus der Komfortbox raus, aber es lohnt sich jedes Mal. Entscheiden wir immer richtig? Natürlich nicht. Wir machen Fehler. Aber wir versuchen alle, aus diesen Fehlern zu lernen und es beim nächsten Mal besser zu machen. Kostet es viel Aufwand? Das ist relativ. Wir Entwickler*innen haben 20% Slack-Time (das ist Zeit, die uns außerhalb der Kundenarbeit für persönliche Entwicklung zur Verfügung steht) und die Arbeit in den Kreisen ist manchmal ein Teil davon. Das klingt am Anfang merkwürdig, aber wenn man gelernt hat, den Fokus für sich selbst richtig  zu setzen, wird man auch nur an den Kreisen arbeiten, die einem wirklich am Herzen liegen.